Selma Lagerlöf und Nils Holgersson

von Britta Quebbemann (ähnlich erschienen in P.M. Biografie 1/2011)

 

„Nils Holgersson... fliegt mit den Gänsen davon“, mit diesen lieblich gesungenen Worten beginnt jede Folge der japanischen Zeichentrickserie „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“, die dem frechen Jungen aus Schweden zu Weltruhm verhalf. Nils lebt mit seinen Eltern auf einem kleinen Bauernhof und hat nichts Besseres zu tun, als die Hühner zu jagen, die Katze am Schwanz zu ziehen und den Hofhund in ein Fass zu sperren. Als er ein Wichtelmännchen mit einem Netz fängt, ist es mit dem Spaß vorbei. Keineswegs zaubert es die Predigt, die Nils gerade lesen soll, in seinen Kopf, wie er es wünscht. Stattdessen verwandelt es ihn in einen Zwerg und auch sein Hamster Krümel schrumpft. Nils versteht plötzlich die Sprache der Tiere und was er da hört, ist nicht so erfreulich. Als die Hausgans Martin mit den Wildgänsen davon fliegen will, versuchen Nils und Krümel, sie daran zu hindern. Doch sie lässt sich nicht abhalten. Nils kann sich mit Mühe auf ihren Rücken retten und es beginnt seine abenteuerliche Reise durch Schweden.

 

Selma Lagerlöf, aus deren Feder die Vorlage für den animierten Kinderfilm stammt, ist nach Astrid Lindgren die bekannteste schwedische Autorin. Ihr Leben begann märchenhaft auf einem alten Gutshof namens Marbacka, zumindest beschrieb sie es selbst so in ihrem Text „Noch ein Stück Lebensgeschichte“. Es war der Abend des 20. November 1858, als auf dem alten Herrenhof ein Mädchen zur Welt kam. Im Nebenzimmer saßen die Großmutter und Tante Wennervik, eine Pfarrersfrau, die auch die Kunst des Kartenlegens beherrschte. Dem kleinen Mädchen prophezeite sie ständige Kränklichkeit, viele Reisen, viel Arbeit und zuletzt noch, dass es nicht heiraten werde. Die Großmutter trug die dunklen Vorhersagen der Tante mit Fassung. „So, so, sie wird nie heiraten... Na ja, dann bleiben ihr vielleicht viele Sorgen erspart.“ Zuletzt fügte die Wahrsagerin noch tröstlich hinzu: „Gut und freundlich wird sie sein.“ Immerhin. Das war für die Großmutter, die aus einer Pfarrersfamilie stammte, das Wichtigste.

Der Vater von Selma war der Gutsbesitzers Erik Gustaf Lagerlöf, ein ehemaliger Leutnant, ihre Mutter Loise, geborene Wallroth, stammte aus einer vermögenden Kaufmannsfamilie aus Filipstad. Drei ältere Geschwister lebten schon in dem einstöckigen roten Holzhaus mit dem großen Garten und den vielen Tieren, eine Schwester, Gerda, wurde später noch geboren. Am Herdfeuer fand sich immer jemand, der den Kindern gruselige Geschichten erzählte, sie handelten von ausgemusterten Soldaten, armen Bettlern, unglücklichen Frauen, aber auch von Geistern und von Wichteln, die in Schweden „Tomte“ genannt wurden.

Selma, die mit einem Hüftleiden geboren wurde und daher humpelte und Gerda, die vier Jahre jünger war, wurden zu Hause von Gouvernanten unterrichtet. Selma brauchte und bekam viel Zuwendung, weil sie nicht wie die anderen Kinder herumtoben konnte. Unglücklicherweise erkrankte sie als Dreijährige auch noch an Kinderlähmung. Doch es vollzog sich eine wundersame Heilung: Als sie auf einem Ausflug einen „Paradiesvogel“, vermutlich einen Pfau, sah, lief sie auf ihn zu und seit diesem Zeitpunkt konnte sie sich wieder allein fortbewegen. Dennoch fühlte sie sich immer als Außenseiterin. Auf einen der beliebten Bälle wollte sie nicht gehen, weil sie ahnte, dass sie sowieso niemand zum Tanzen auffordern würde. Sie verliebte sich unglücklich in einen Studenten, der sich dann mit einer anderen Frau verlobte. In ihren autobiographischen Schriften Marbacka (1922), Aus meinen Kindertagen (1930) und dem Tagebuch von Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf (1932) schildert sie ihre Kindheit und Jugend mit dem Wissen, dass ihre Geschichte letztlich doch so ausgegangen war, wie sie es als Kind erhofft hatte. Wenn der Student sich für sie entschieden hätte, wie hätte sie dann Romane schreiben können? Und das war es, was sie von Anfang an wollte. „Ich will eine große Autorin werden, das ist alles. Ich lasse die Welt, die Schule, meine Familie so leben, wie sie wollen, ich habe nur ein wirkliches Interesse.“, schrieb sie 1886 an eine Freundin. Vorerst aber las sie selbst alle Bücher, die sich in der Umgebung auftreiben ließen. Für Haushaltsdinge interessierte sie sich hingegen kaum.

 

In den 1860er Jahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage in Värmland. Viele Gutsbesitzer verloren ihre Höfe. Selma hatte Angst, dass es ihrer Familie genauso ergehen könnte. Ihr Vater war kein besonders guter Gutsverwalter, er investierte zu viel in aufwendige Ställe und große Teiche, die sich letztlich als unwirtschaftlich erwiesen. Außerdem sprach er, wie viele andere in Schweden, dem Alkohol mehr zu, als ihm gut tat. In Selma Lagerlöfs Roman Gösta Berling spielt dieses Thema eine Rolle. Gösta Berling, ein Pfarrer, verliert seine Stelle, weil er zu viel trinkt. Selma liebte ihren Vater, einen freundlichen Mann und guten Geschichtenerzähler, sehr, aber sie spürte das Bedürfnis, auf eigenen Füßen zu stehen. Vielleicht ahnte sie auch, dass sie niemals heiraten würde. Zufällig hatte sie bei einem der vielen Feste in der Nachbarschaft die Frauenrechtlerin Eva Fryxell kennengelernt. Mit ihrer Unterstützung überzeugte sie den Vater davon, dass sie eine Ausbildung als Lehrerin machen sollte. Das war eine der wenigen Möglichkeiten für eine junge Frau, ihr eigenes Geld zu verdienen. Sie besuchte das Staatliche Höhere Lehrerinnenseminar in Stockholm.

1885 starb ihr Vater und hinterließ ein hoch verschuldetes Gut. Selma war tief betrübt über diesen Verlust und in großer Sorge um das Gut, das drei Jahre später tatsächlich versteigert werden musste. Es war für sie schrecklich zu sehen, wie all ihre Möbel aus dem Haus getragen wurden. In dem Jahr, in dem ihr Vater starb, nahm sie eine Stelle an einer Mädchenschule in Landskrona in Südschweden an. Sie war nicht glücklich als Lehrerin. Als einzige der ernst blickenden jüngeren und älteren Damen hatte sie ihre Haare ganz kurz geschnitten, schon das unterschied sie. Sie veröffentlichte einige Gedichte in einer Zeitschrift der schwedischen Frauenbewegung, die redaktionell von der Freiherrin Sophie Adlersparre (1823–1895) betreut wurde. 1890 gewann Selma ein Preisausschreiben mit fünf unveröffentlichten Kapiteln ihres gerade entstehenden Romans Gösta Berling. Als Sophie Adlersparre davon hörte, sorgte sie dafür, dass Selma ein Jahr vom Schuldienst befreit wurde, um den Roman in Ruhe fertig schreiben zu können.

Zuerst hatte das Buch nicht den Erfolg, auf den Selma gehofft hatte. In einer Zeit, die von der Literatur des Naturalismus eines Johan August Strindberg geprägt war, kamen ihre phantasievollen Geschichten nicht so gut an. Doch dann erschien eine dänische Übersetzung und der berühmte Literaturkritiker Georg Brandes empfahl das Buch in einer kurzen Rezension. Plötzlich war das Interesse des Publikums an der jungen Autorin geweckt. Alle wollten ihr Buch über den abgesetzten Pfarrer Gösta Berling lesen. Es spielt in Värmland in den 1820er Jahren. Berling wird zum Anführer der Kavaliere, die auf Gut Ekeby ihr Unwesen treiben. Das abenteuerliche Leben dieser Kavaliere, die einst Offiziere waren oder Adlige, die ihren Besitz verloren hatten, wird in zahlreichen Episoden geschildert. Die Atmosphäre in dem Buch ist düster, es gibt einen Teufelspakt und viele verwickelte Beziehungsgeschichten. Am Ende wird Gösta Berling zu einem besseren Menschen. Selma Lagerlöf schrieb viel später, dass sie mit ihren Büchern von ihrem Zuhause retten wollte, was noch zu retten war: „die lieben alten Geschichten, den fröhlichen Frieden der sorglosen Tage und die schöne Landschaft mit dem langgestreckten See und den blauschimmernden Hügeln.“

 

1895 konnte Selma endlich den ungeliebten Schuldienst quittieren. Sie reiste mit ihrer Freundin, der jüdischen Schriftstellerin Sophie Elkan (1853-1921) nach Italien, Deutschland, Belgien und in die Schweiz. Die beiden hatten sich auf einer Neujahrsfeier 1894 kennengelernt. Sophie war früh verwitwet und auch ihr einziges Kind war gestorben. Seither trug sie nur noch schwarze Kleidung und einen Witwenschleier. Von Selma war sie gleich angetan: „Sie sind sehr hübsch. Ich weiß, dass wir Freundinnen werden“, soll sie bei ihrer ersten Begegnung gesagt haben. Beide Frauen, die sicher nicht unkompliziert waren, verband eine innige Freundschaft, vielleicht war es auch eine Liebesgeschichte.

Selma Lagerlöf verlegte ihren Wohnsitz nun nach Falun, wo auch schon ihre Schwester wohnte. Dort kümmerten sie sich gemeinsam um die Mutter und eine alte Tante. An Ideen für neue Romane mangelte es der Autorin nicht. 1897 erschien „Die Wunder des Antichrist“, kurz nach der Jahrhundertwende dann der zweibändige Roman „Jerusalem“. Inspiriert wurde Selma Lagerlöf dazu durch ein Ereignis, das sich in der Gemeinde Nås in der Nähe von Falun ereignete. Eine Gruppe von Bauern war in Folge einer religiösen Erweckung nach Jerusalem ausgewandert, um sich dort einer amerikanischen Sekte anzuschließen. Dies machte Selma Lagerlöf zum Thema ihres Romans. Zu Recherchezwecken reiste sie mit Sophie Elkan nach Ägypten und Palästina.

 

Wieder zurück wartete schon eine neue Aufgabe auf sie. Der Verband der schwedischen Volksschullehrer hatte eine Reihe neuer Lesebücher für die Schule in Auftrag gegeben. Den Band über Land und Leute Schwedens sollte Selma Lagerlöf übernehmen. Sie war über diese Aufgabe sehr erfreut und vergrub sich zwei Jahre lang in geologische, botanische, zoologische, historische und geographische Schriften und reiste selbst durch Schweden. 1905 hatte sie dann die zündende Idee: Sie wollte kein herkömmliches Geographiebuch schreiben, sondern die Landschaftsschilderungen aus der Perspektive der Vögel schildern und sie mit spannenden Abenteuern verbinden.

Die Geschichte der Hausgans Martin, die sich den Wildgänsen anschließt, beruht auf einer echten Begebenheit. Zur Zeit ihres Urgroßvaters hatte sich im Frühling ein zahmer weißer Gänserich den nach Norden ziehenden Wildgänsen angeschlossen und war im Herbst mit seiner Frau und sieben kleinen Gänschen nach Marbacka zurückgekehrt. Die wahre Geschichte endete tragisch für die Gänse: Sie landeten alle im Kochtopf. Dieses Ende sollte Martin erspart bleiben. Dennoch ist die Geschichte von Selma Lagerlöf komplexer und tragischer als die gleichnamige Zeichentrickserie. Einen Hamster gibt es bei ihr nicht, dafür sind viele Sagen eingestreut und die poetischen Landschaftsbeschreibungen können noch immer als Grundlage für eine Schwedenreise genommen werden, wie Sabine und Wolfram Schwieder in ihren Buch „Wunderbare Reise durch Schweden – Auf den Spuren Nils Holgerssons“ zeigen. Wie im Film ist Nils auf einem kleinen Bauernhof in Västra Vemmenhög zu Hause. Nach seiner Verwandlung durch den Wichtel fliegt er – zunächst unfreiwillig- auf dem Rücken von Martin mit den Wildgänsen unter der Führung der hundertjährigen Wildgans Akka von Kebnekaise nach Norden. Biologisch korrekt ist hier vieles nicht, Graugänse werden normalerweise nur etwa 17 Jahre alt. Aber das spielt in einem Buch, in dem alle Tiere sprechen können, keine große Rolle. Den Kunstgriff mit den sprechenden Tieren hat Selma Lagerlöf aus dem wenige Jahre vorher erschienenen Dschungelbuch von Rudyard Kipling übernommen. Der Name der Leitgans „Akka von Kebnekaise“ ist nicht zufällig gewählt. Er setzt sich aus den Namen zweier Berge in Lappland zusammen, Akka, auch „Königin Lapplands“ genannt, und Kebnekaise, dem höchsten Berg Schwedens. Akka bedeutet auf Samisch außerdem Mutter und alte Weise.

Gleich zu Beginn muss der vierzehnjährige Junge, der bislang in seinem Leben nur Unsinn getrieben hat, schwierige Aufgaben lösen und er lernt schnell. Er gibt dem erschöpften Gänserich Martin Wasser, rettet eine Gans vor dem bösen Fuchs Smirre und bringt einem gefangenen Eichhörnchen seine Jungen in den Käfig. Dann bekommt er die Chance der Rückverwandlung, lehnt sie aber ab. Nun möchte er wirklich mit den Gänsen nach Lappland fliegen und ein freies Leben voller Abenteuer führen. Manchmal hat er bei seinen Rettungsversuchen Erfolg, manchmal nicht.

In der Geschichte „Die Stadt auf dem Meeresgrund“ erzählt Selma Lagerlöf die Sage der versunkenen Stadt Vineta, die vor der deutschen Ostseeküste gelegen haben soll. In Zinnowitz auf Usedom sind dieser Stadt alljährlich sommerliche Festspiele gewidmet. Nils wandelt durch diesen mittelalterlichen Ort mit all den Händlern und Handwerkern. Ständig bittet ihn jemand, ihm etwas abzukaufen. Zunächst versteht Nils nicht, worum es hier geht. Außerdem hat er keinen Heller bei sich und die alte Münze, die er vorher am Strand gesehen hatte, hatte er leider liegen lassen. Als ihm klar wird, wie dringlich, ja erlösend es wäre, dass jemand einem der Händler etwas abkauft, läuft er aus der Stadt hinaus um die Münze zu suchen. Doch als er sich umdreht, ist Vineta verschwunden.

Moralische Konflikte, auch die zwischen menschlichen Interessen und der Bewahrung der Natur werden in diesem Buch immer wieder thematisiert. Besonders deutlich wird das in den Geschichten, die im Bergwerksdistrikt spielen. Dort gerät der kleine Nils in die Hände von Bärenkindern, die ihn als lustiges Spielzeug benutzen. Der Bärenvater findet den menschenartigen Besuch in der Bärenhöhle überhaupt nicht komisch und möchte den Wichtel lieber gleich verspeisen. Der beeindruckt ihn damit, dass er ein Streichholz anzündet. Da kommt dem Bären die Idee, dass Nils ja das verhasste Hüttenwerk in der Nachbarschaft, das ständig entsetzlichen Lärm macht, in Brand setzen könnte. Nils bittet sich eine Bedenkzeit aus und in dieser Zeit fällt ihm ein, was das Eisen für die Menschen bedeutet. Pflugschar, Sense, Messer, Gewehr, Kriegsschiffe, Eisenbahn, Schere, Nadel, Topf, alles besteht aus Eisen. Die Beherrschung des Feuers und die Verwendung von Eisen sind es, die zur Überlegenheit der Menschen über die Tiere führen. Zudem sorgen die Hütten im Bergwerksdistrikt dafür, dass die Familien Arbeit und Brot haben. Am Ende beschließt Nils: „Ihr werdet mich nie dazu bringen, den Eisenhammer“ - so hieß das Werk- „zu zerstören.“ Der Bär droht: „Dann erwartest du wohl auch nicht, dass ich dich am Leben lasse.“ „Nein, das erwarte ich nicht“, antwortet Nils. Er ist bereit, sich selbst für das „Größere“ zu opfern. Doch es kommt anders. Nils warnt den Bären vor einem Jäger und dafür lässt der Bär ihn dann doch frei.

Die Industrialisierung Schwedens hatte Mitte des 19. Jahrhunderts kräftig expandiert. Holzwirtschaft, Bergbau und Metallverarbeitung waren dabei die wichtigsten Industriesparten. Selma Lagerlöf verbrachte große Teile ihres Lebens in der Bergwerksstadt Falun, die schon seit dem Mittelalter ein Industriezentrum war und heute als Industrielandschaft zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Carl von Linné beschrieb die Stadt als „größtes Wunder Schwedens, aber furchtbar wie die Hölle selbst.“ Kupferbergbau war es, der hier die Erde aushöhlte und die Pflanzen nur äußerst verkrüppelt wachsen ließ.

Doch nicht nur die Vor- und Nachteile der Industrialisierung werden in diesem Buch diskutiert. Besonders beeindruckend ist die eingebettete Geschichte von Asa und Klein Mats, zwei Kindern, die Nils vom Gänsehüten kennt und die nun zu Fuß durch Schweden ziehen. Ihre Familie hatte eine kranke Frau aufgenommen. Sie war als Mädchen von Zuhause weggelaufen und mit Zigeunern umhergezogen. Kurz bevor sie starb, erzählte sie, dass eine Zigeunerin sie und alle, die sich ihrer anehmen würden, verflucht habe. Schreckliches passierte im Haus der barmherzigen Familie: Nach und nach starben fast alle Kinder. Der Vater konnte es nicht mit ansehen und ging weg. Nachdem auch noch die Mutter gestorben war, machten sich die beiden überlebenden Kinder auf die Suche nach dem Vater. Mittlerweile hatten sie durch einen Vortrag erfahren, dass die Familie wahrscheinlich an Tuberkulose gelitten hatte. Das wollen sie dem Vater unbedingt berichten. Doch unterwegs verunglückt Klein Mats. Asa organisiert seine Beerdigung und er hilft ihr als Geist weiter. Auch Nils hilft. Bei den Lappen findet Asa den Vater wieder. Sie erzählt ihm, dass die Familie doch nicht verflucht, sondern von einer Krankheit heimgesucht worden war.

Tuberkulose war eine Krankheit, die in dieser Zeit schrecklich grassierte. Selmas Schwester Anna war daran gestorben, der Mann und das Kind ihrer Freundin Sophie Elkan ebenfalls. Es war Selma Lagerlöf ein großes Anliegen, darüber aufzuklären, wie man die hoch ansteckende Krankheit durch Hygienemaßnahmen verhindern oder zumindest eindämmen könnte.

Als Nils nach seiner langen Reise nach Vemmenhög zurückkehrt, gibt es ein Problem. Eine Bedingung des Wichtelmännchens für die Rückverwandlung war nämlich, dass Martin auf dem Elternhof geschlachtet wird. Das will Nils nicht zulassen und beschließt, auf seine Rückkehr zu verzichten. Als er sieht, wie schlecht es seinen Eltern geht, möchte er ihnen helfen. Das kann er aber als Zwerg kaum. Plötzlich landet Martin doch auf dem Grundstück. Die Eltern, deren Nahrungsvorrat knapp ist, bringen ihn in die Küche. Nun rennt Nils, ohne lange zu überlegen, zu seinen Eltern um Martin zu retten. In diesem Augenblick verwandelt er sich und Martin landet natürlich nicht im Topf.

Der Junge, der im Frühjahr fortgezogen war, „hatte einen schwerfälligen, langsamen Gang, eine träge Stimme und schläfrige Augen gehabt; der Nils Holgersson, der jetzt zurückgekehrt war, war flink und geschmeidig, sprach rasch und hatte glänzende, leuchtende Augen.“ Selma Lagerlöf hat mit dem 1906-1907 erschienenen dreibändigen Lesebuch „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ viel mehr als ein Geographiebuch über Schweden vorgelegt. Es ist ein Buch über die Natur, in der die Sonne spricht und der Wind, der Wald und die Tiere, in der viele Sagen Schwedens versammelt sind und man einiges über die sozialen Strukturen erfährt. Auch Marbacka kommt in dem Kapitel „Ein kleiner Gutshof“ vor, ebenso wie die Autorin selbst. Außerdem ist es die Entwicklungsgeschichte eines Jugendlichen. Nils verwandelt sich im Laufe seiner Reise von einem bösartigen Nichtsnutz in einen verantwortungsbewussten Jugendlichen.

 

Das Buch war gleich nach seinem Erscheinen ein großer Erfolg. Bereits im ersten Jahr wurden 100.000 Exemplare verkauft. Der Schulbehörde gefiel es weniger gut, weil es ihr zu unterhaltsam war und dann auch noch märchenhafte Züge trug. Auch die Kirche meldete Kritik an: Ihr fehlten die christlichen Inhalte. Für Selma Lagerlöf bedeutete „Nils Holgersson“ einen großen finanziellen Segen und Anerkennung als Schriftstellerin weit über Schweden hinaus. Ihre Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. 1907 konnte sie das Haus und den Garten des Gutes Marbacka zurückkaufen und sie erhielt einen Ehrendoktortitel an der Universität Uppsala. 1909 folgte, als Krönung ihres Lebens, der Nobelpreis für Literatur „auf Grund des edlen Idealismus, des Phantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen.“ In ihrer ungewöhnlichen Rede zu diesem Anlass erinnerte sie sich vor allem an ihren Vater, dem sie in einem Tagtraum auf der Reise nach Stockholm begegnet war. Sie war ihm, aber auch den Menschen in Marbacka und der ganzen Natur unendlich dankbar für die Geschichten, die ihr erzählt wurden. In „Ein Stück Lebensgeschichte“ berichtet sie, wie lange die Saga warten musste, bis die Autorin endlich bereit war, sie zu erzählen. Ihr episodenhafter Stil erinnert an nordische Sagas wie die Edda. In letzter Zeit entdecken Literaturwissenschaftler immer mehr die kunstvoll verwebte Vielschichtigkeit ihres Werkes, das zeitweise für ein wenig naiv gehalten wurde.

 

Das Geld, dass sie als Preis erhielt, nutzte Selma Lagerlöf, um auch den Gesamtbesitz von Marbacka zurückzukaufen. Sie pendelte zwischen Marbacka und Falun hin und her. In Falun lebte nicht nur ihre Schwester mit ihrer Familie, sondern auch ihre Freundin Valborg Olander. Die Lehrerin war lebenslang eng mit Selma Lagerlöf befreundet, half ihr bei der Arbeit mit Nils Holgersson und stellte ihr eigenes Leben in den Dienst der begabten Freundin. Sophie Elkan und sie waren ein wenig eifersüchtig aufeinander. Der in den 90er Jahren erschienene Briefwechsel zwischen Olander und Lagerlöf deutet darauf hin, dass sie ein lesbisches Verhältnis hatten. Seither gilt Selma Lagerlöf als eine der Ikonen der Lesbenbewegung. Literaturwissenschaftler sind da vorsichtiger. Annegret Heitmann, Professorin für Nordische Philologie, meint, dass man die Frage, ob Selma Lagerlöf lesbisch war, nicht beantworten könne, wenn die Autorin selbst dazu nichts gesagt habe. Und so ausdrücklich hat sie das nicht. Es wäre in ihrer Zeit aber auch sehr gefährlich gewesen, denn weibliche und männliche homosexuelle Beziehungen waren in Schweden damals verboten. Überhaupt sah es mit den Frauenrechten nicht gut aus. Die Schwedinnen hatten nur ein kommunales Wahlrecht – und selbst das galt nur für unverheiratete Frauen. Selma Lagerlöf war in ihren frühen Jahren von Frauen aus der Frauenbewegung unterstützt worden, und nun engagierte sie sich selbst für Frauenrechte. Die Frauen in ihren Romanen sind oft stärker als die Männer. Im Nils Holgersson ist es der Vater der kranken Kinder, der vor dem Elend flieht, während die Mutter bleibt, Akka, die Leitgans, ist weiblich und der Vater von Nils ist es, der die Familie fast in den Ruin treibt. Selma Lagerlöf hat mit ihrer Großmutter und der Großtante selbst starke Frauen in ihrer Umgebung erlebt, während ihr Vater zwar ein netter Mensch war, der aber finanziell letztlich scheiterte.

Seine Tochter war nicht nur eine hervorragende Schriftstellerin, sondern auch eine gute Geschäftsfrau. Sie baute Marbacka zu einem produktiven Gutsbetrieb aus, ließ das Haus zu einem repräsentativen Bau umgestalten und errichtete eine eigene Haferfabrik. Das Gesinde bestand am Ende aus 53 Personen, es gab fünf Pferde und 32 Kühe.

 

Je älter sie wurde, um so mehr wurde Selma Lagerlöf zu einer Repräsentantin Schwedens. Sie empfing Besucher und hielt Hof für Journalisten. Einerseits hatte sie sich diese Anerkennung gewünscht, andererseits wurde sie ihr manchmal zu viel. Eines Tages soll sie ihre Haushälterin verkleidet und auf den Balkon von Marbacka gestellt haben, damit diese für sie den Besuchern winken sollte.

1922 verlor Selma Lagerlöf eine ihrer wichtigsten Gefährtinnen, Sophie Elkan. Sie richtete ein Zimmer zu ihrer Erinnerung in Marbacka ein. Literarisch blieb sie auch in den späteren Jahren aktiv. Es entstanden der Fuhrmann des Todes, das Mädchen vom Moorhof, der Kaiser von Portugallien, Trolle und Menschen I und II, und ihre autobiografischen Schriften.

1933 beteiligte sich Selma Lagerlöf an einem Komitee zur Rettung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland. Als ihr deutscher Verlag sie darauf hinwies, dass dies negative Folgen für den Buchvertrieb haben würde, ließ sie sich dadurch einschüchtern. Dennoch half sie der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs, mit der sie schon lange befreundet war, nach Schweden zu fliehen, und rettete so deren Leben. Das Engagement für Menschen jüdischen Glaubens war sie, wie sie selbst sagte, ihrer Freundin Sophie Elkan schuldig.

Auch sonst leistete sie Hilfe, wo sie konnte. Sie nahm einen Jungen, der Nils Holgersson hieß, als Pflegekind in ihre Obhut, spendete immer wieder viel Geld an Menschen in Not und sie engagierte sich gegen den Krieg. Am Ende musste sie noch den Beginn des Zweiten Weltkriegs miterleben. Kurz darauf, am 16. März 1940 starb sie 81-jährig auf Marbacka. Dort findet man heute ein Selma Lagerlöf-Museum. Gleich am Eingang steht in einem Regal eine ausgestopfte Gans. Sie ist ein Geschenk von Schulkindern aus Schonen. Und überall in Schweden kann man Nils und seiner Erfinderin beim Einkaufen begegnen: Der 20 Kronen-Schein zeigt den Jungen mit den Wildgänsen auf der einen und Selma Lagerlöf auf der anderen Seite.

 

Literatur:

Selma Lagerlöf, Gesammelte Werke, München 1980.

Sabine und Wolfram Schwieder, Wunderbare Reise durch Schweden, München 2008.

Wunderbare Reise... , Ausstellungskatalog, Marburg 1998.

Selma Lagerlöf, Ausstellungskatalog, Düsseldorf 1986.